Östlich von Rathenow liegt Neufriedrichsdorf. Diese deutlich von der übrigen Stadt abgegrenzte Siedlung geht auf eine 1765 gegründete Tuchfabrik zurück. Der Durchzug der Napoleonischen Armee von 1806 bis 1808 beendete ihren Betrieb – die Arbeiterkolonie aber blieb erhalten.
Außer Pritzwalk und Wittstock galt auch Kyritz in der Ostprignitz seit dem Mittelalter als Tuchmacherstadt. Hier verarbeiteten die Spinner und Weber Schafwolle und griffen dabei auf die traditionell in der Region vorhandenen Schafherden und die unter anderem für Walkmühlen notwendige Wasserkraft zurück. Ganz anders verlief es in Rathenow im Havelland: Hier ließ der preußische König Friedrich II. 1765 eine Tuchfabrik neu ansiedeln. Sie stellte Tuch aus Baumwollmischgewebe her, dessen Rohstoffe von weither kamen.
Mitte des 18. Jahrhunderts war der König bestrebt, Preußen wirtschaftlich zu entwickeln und förderte die Ansiedlung von Fabriken, schrieb Ilse Henkel in den Rathenower Heimatkalendern 1981 und 1982. Konkret wurde die Stadt Rathenow schon 1748 dazu aufgefordert, etwas zu unternehmen – doch es passierte zunächst nichts. Am 27. August 1763 erhielt aber der Schutzjude Pintus Levin in Rathenow von Friedrich II. „als guter Steuerzahler“ das Recht, überall in der Mark Brandenburg Spinnereien zu errichten. Levin war Lieferant der preußischen Armee gewesen und baute nun 1764/65 in der Neustadt von Rathenow eine Kanevas- und Barchentfabrik auf. Karnevas ist ein Gewebe aus stark gedrehtem Garn mit quadratischen Zwischenräumen, das Wollstickereien diente. Und Barchent ist ein Mischgewebe aus Baumwoll-Schuss auf Leinen-Kette.
Für die Fabrik wurden in der Fabrikenstraße 8–10 (heute Wilhelm-Külz-Straße) drei Häuser errichtet, in denen Weber arbeiten und zum Teil sogar wohnen konnten. Allerdings fehlten der Stadt spezialisierte Arbeitskräfte, die dann mit höheren Löhnen in Brandenburg abgeworben wurden. Auch aus Sachsen und Mecklenburg kamen die Beschäftigten. Zunächst vor allem Spinner wurden in der neu errichteten Kolonie an der Chaussee nach Bamme draußen vor der Stadt angesiedelt, um die Bewohner besser kontrollieren zu können. Durch Kabinettsorder vom 12. März 1765 wurde Pintus Levin der Bau von 50 Doppelhäusern für 100 Spinnerfamilien übertragen. Im Mai wurde mit dem Bau begonnen, ein Jahr später wurde sie zum Teil bezogen, 1767 dann fertiggestellt. Später wurden in der „Spinnerkolonie“ auch Weber angesiedelt.
Doch am 2. Juni 1768 starb Levin. Die Kattunfabrik übernahm der Schönfärber J. O. Treskow, der aber das nötige Unternehmertum vermissen ließ. Besser lief es seit 1772 mit G. Bartsch und Kompanie: Sie produzierte 1780 mit 46 Webstühlen, vier Jahre später aber nur noch mit zweien. Der Absatz verlief schleppend, die Bewohner der Kolonie wurden arme Leute, die auch gebettelt und gestohlen haben sollen, weil das Spinnen zu wenig Lohn einbrachte, obwohl sie miet-, dienst- und abgabenfrei wohnten. Rasch waren die ersten Häuser bereits reparaturbedürftig, einige standen 1782 wegen Baufälligkeit leer. Ohnehin war die Kolonie bis 1784 nie vollständig belegt, oft nicht einmal zu einem Viertel.
Doch 1785 lief das Geschäft wieder – erstmals war die Kolonie nun voll belegt: mit 61 Spinner- und 21 Weberfamilien und Altsitzern, insgesamt 354 Menschen. 1791 wurden den Bewohnern die Häuser geschenkt, so dass der Stadt sie nicht mehr reparieren musste. 1799 wurden in der Siedlung 54 Spinner- und 32 Weberfamilien gezählt, sowie 79 Altsitzer und Einlieger (Mieter). Der Durchzug der Napoleonischen Armee 1806–08 aber sorgte für erhebliche Notlagen nicht nur in Neufriedrichsdorf. Immerhin erhielten die Weber und Spinner 1809 ihre Gewerbefreiheit, so dass sie nun in den Wohnhäusern der Kolonie selbstständig arbeiten konnten. Vermutlich wurde die Fabrik in Rathenow damals stillgelegt, weil sie im Vergleich zu den mit Dampfkraft betriebenen Fabriken nicht mehr konkurrenzfähig war.
Jetzt zogen auch andere Gewerbetreibende in die Siedlung; genannt wurden Kesselflicker, Drechsler, Maurer und Schuhflicker. Schon 1810 soll es hier 40 Gewerbetreibende und 20 Weberfamilien gegeben haben, außerdem Tagelöhner und Arbeitslose – insgesamt etwa 500 Einwohner. Doch die Handwerker erhielten diese Siedlung, in wenigen Fällen wurde Altbauten um 1900 sogar durch wesentlich größere Häuser ersetzt. Grundsätzlich aber blieb das Siedlungsbild aus dem 18. Jahrhundert erhalten: mit eingeschossigen, in lange Reihen gesetzten Doppelhäusern mit hohem Dach und handtuchartigem Gartenland, das auch der Selbstversorgung diente.
Von den drei Gebäuden der Tuchfabrik blieb das Haus Wilhelm-Külz-Straße 10 lange stehen. Hier baute die Firma Wietz ab 1910 im Auftrag des Flugpioniers Waldemar Geest eines der ersten Motorflugzeuge in Deutschland, berichtete Wolfram Bleis vom Rathenower Heimatbund e.V. Doch vor wenigen Jahren wurde auch das abgerissen.
Auch unabhängig davon gab es kleine Textilfabrikationen in Rathenow, wie aus einer im Bestand „Sammlung Guthjahr“ des Kreis- und Verwaltungsarchivs Friesack enthaltenen Notiz hervorgeht: So soll der Rechtsanwalt Bernhard Bisching ab etwa 1843 eine mit Wasserkraft angetriebene Wollspinnerei am Mühlendamm besessen haben. Sie wurde an den Fabrikanten Köhler verkauft, der sie beträchtlich erweiterte. Doch 1862 wurde sie geschlossen. 1856 sollen die beiden letzten Tuchmacher der Stadt ihren Betrieb eingestellt haben. Der letzte Wollspinner war Friedrich Wilhelm Baade in der Großen Burgstraße in Rathenow, der noch 1869 hinter seinem Wohnhaus eine neue Spinnerei mit Dampfbetrieb baute. Sein Betrieb bestand bis etwa 1900. Und im Jahr 1890 wurde Gustav Börsch in der Baderstraße 10 als Wollspinner genannt, ebenso gab es einen Tuchmacher in der Baderstraße 1 mit eigener Spinnerei.