Auf Spurensuche in Premnitz: Grisuten-Anlage produziert immer noch

In vielen Fällen ist die Produktion von Textilfasern in der Prignitz und im Havelland längst Geschichte. Eine Ausnahme ist die im Oktober 1972 in Betrieb genommene Grisuten-Anlage in Premnitz: Dort stellt die Märkische Faser GmbH unverändert Polyester-Fasern her.

Das Chemiefaserwerk in Premnitz geht auf die im Ersten Weltkrieg von der Vereinigte Köln-Rottweiler Pulverfabriken AG errichteten Fabrik für Schießbaumwolle (Nitrozellulose) auf der Basis von Nadelholz-Zellstoff zurück. Nach Kriegsende stellte sich das Werk rasch auf eine zivile Produktion um: 1919 begann hier die Entwicklung und später die Großproduktion von Kunstfasern aus Viskose (Zellwolle) auf Zellulose-Basis – Vistra genannt. So blieb ein Teil des alten Werkes schließlich fast 100 Jahre erhalten: In der Schießbaumwollefabrik wurde zunächst die Vistra-Produktion eingebaut und 1950 eine neue Anlage für die Herstellung der Kunstseide Prezenta eingerichtet. Erst von 2015 bis 2017 wurde dieser markante Gebäudekomplex mit seinen großen Schornsteinen abgebrochen.

An die Anfänge im Ersten Weltkrieg erinnern in Premnitz heute Teile der Werkssiedlung, ein Wasserturm, das Verwaltungsgebäude und die zum Hafen führende Werkbahnbrücke. Neben der Brücke, mitten im Stadtzentrum steht die 1965 von dem Rathenower Bildhauer Karl Mertens gestaltete Skulptur „Konerin“: Für sie waren die Arbeiterinnen im Kunstseidenbetrieb das Vorbild. Hier, in der Konerei, wurde die Kunstseide zum Versand auf konische Spulen gebracht, welche die Konerinnen an den Maschinen wechselten. Die berichtete Jürgen Mai, der einst für das Chemiefaserwerk gearbeitet hat und heute das Stadtarchiv in Premnitz betreut.

Statt auf die schon vor dem Zweiten Weltkrieg produzierten Kunstfasern (chemisch umgewandelte Naturfasern) richtete sich das Kunstseidenwerk „Friedrich Engels“ VEB Premnitz immer stärker auf synthetische, auf der Erdölchemie basierende Fasern aus. Deshalb firmierte es seit 1960 auch als VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“. Fasern wie die Perlon-Faser Dederon, die Acryl-Faser Wolpryla und die Polyester-Faser Grisuten (zunächst Lanon genannt) wurden nun die Schwerpunkte der Premnitzer Produktion.

1961 hatte das Chemiefaserwerk mit einer Pilotanlage zur Herstellung von Polyester-Fasern begonnen, die bis 1968 zur Großanlage ausgebaut wurde. Die in englischer Lizenz erbaute Grisuten-72-Anlage führt die Märkische Faser GmbH bis heute weiter und vermarktet die Faser weltweit unter dem Warenzeichen Grisuten. In Ostdeutschland waren die mit Grisuten geschneiderten Kleider und Anzüge unter dem Namen „Präsent 20“ – zum 20jährigen Bestehen der DDR – allgemein bekannt. Die erste Polyester-Faser hatte John Rex Whinfield 1941 in England zum Patent angemeldet. 1947 wurde er Mitarbeiter von Imperial Chemical Industries (ICI) und entwickelte sie zur Synthesefaser Terylene weiter. In Westdeutschland vermarktete die Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG die Faser als Diolen.

Polyester-Fasern nehmen nach Angaben von Jürgen Mai wegen ihrer herausragenden Eigenschaften heute weltweit eine Spitzenposition bei den Fasern für Textilien und technische Anwendungen ein. Hergestellt werden sie kontinuierlich – wie Dederon-Fasern – im Schmelzspinnverfahren: Hier wird ein Granulat oder Pulver erhitzt, die so entstehende Schmelze dann unter hohem Druck durch Spinndüsen gepresst. Das seit 1960 in Premnitz hergestellte Wolpryla mit seinen wollähnlichen Eigenschaften dagegen entstand im Nassspinnverfahren: Hier wird die Chemikalie durch eine Düse in ein Becken mit Waser und Lösungsmittel geblasen, in dem sich dann die Faser bildet, ohne zu verkleben.

Im Oktober 1972 nahm die Polyesterfaseranlage Grisuten-72 ihren Dauerbetrieb auf. Die Fasern werden hier im Schmelzspinnverfahren produziert. Foto: Jürgen Mai
Die Wolpryla-Faser wurde im Nassverfahren in Fällbadewannen mit Hilfe von Bausteindüsen ersponnen. Diese Düsen bestanden aus einer Edelstahlplatte mit Düsenbausteinen aus einer Gold-Platin-Legierung. Sichtbar ist, dass sich die Fasern erst mit einem gewissen Abstand zu den Düsen bilden. Foto: Jürgen Mai
Die Schießbaumwollefabrik in Premnitz entstand im Ersten Weltkrieg. Später stellten die IG Farbenindustrie AG und das Chemiefaserwerk hier jahrzehntelang Kunstseide her. Erst von 2015 bis 2017 wurde dieser markante Gebäudekomplex abgebrochen. Foto: Sven Bardua
Im Rahmen von Modenschauen informierte die Abteilung Anwendungstechnik über die Einsatzgebiete von Chemiefasern. Foto: Jürgen Mai
Das Chemiefaserwerk Premnitz hatte eine kleine eigene Textilfabrik, in der die Fasern für Kleidung versponnen, verwebt, gewirkt und gestrickt – dann auch präsentiert wurden. Foto: VEB Chemiefaserwerk Premnitz

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