Einfach nur sehen

Schnurgerade verläuft sie, eine fast unsichtbare Spur. Früher fuhr hier eine der bedeutendsten deutschen Privatbahnen von Treuenbrietzen nach Neustadt (Dosse), geblieben ist nur die Erinnerung, eine kaum noch sichtbare Schneise durch das Land. Und wer nicht genau hinschaut, der übersieht sie leicht, die letzten Reste einer einst blühenden Industriekultur im Nordwesten Brandenburgs, bei der sich alles um Faserstoffe drehte, um Faser, Stoffe und Papier, übersieht die längst stillgelegten Papier- und Hanffabriken, die Bastfaser- und Chemiefaserwerke, die dieser Region früher Leben und Arbeit gaben, die Landwirtschaft und Industrie prägten, Kultur und Geschichte, Kunst und Handwerk. Nur wer genauer hinschaut, dem offenbart sich, dass unter dem scheinbar so fraglos Gegebenen die Vergangenheit durchschimmert, undeutlich zwar, wie bei einem mehrfach überschriebenen Pergament, doch gerade noch erkennbar. Nehmen wir zum Beispiel (I) dieses leerstehende Wartehäuschen an den nicht mehr vorhandenen Gleisen vor dem nicht mehr vorhandenen Bahnhof, an dem früher Tag für Tag Fabrikarbeiter und Reisende standen. Heute wartet dort niemand mehr, aber manch einer macht offenbar noch Pause im alten Wartehäuschen, macht blau, ist blau, hinterlässt neue Spuren, die Eva-Maria Schön mit Blaupausen verhängt und die gelegentliche Windstöße wieder freilegen.

Wie gesagt, man muss genau hinsehen, um die Spuren deuten zu können; manchmal aber ist auch der im Vorteil, der weniger gut sieht oder gar blind ist und die Brailleschrift beherrscht. (II) Die sonst ins Papier gedrückten, von tastenden Fingern gelesenen Pünktchen, die dem Blinden eine Welt eröffnen, diese Pünktchen liegen heute auf einer Anhöhe im Sand und wurden von Anke Meixner aus Kalk und Schäben so groß gefertigt, dass kein Finger genügt, sie abzutasten, weshalb der Blinde den Sehenden braucht, um lesen zu können, was in die Natur geschrieben steht.

Was Sie auch nicht sehen können – und diesmal liegt es nicht am untrainierten Auge des Betrachters – ist ein blaues Band, das blühender Lein auf die fast verschwundene Trasse der Bahn malen sollte. In der zu großen Hitze sind die Blüten verdorrt (III). Dafür zerschneidet Antje Scholz‘ Segment die Perspektive aufs Land. Ein weißes, zwischen Traumfängerdrahtflächen gespanntes Fadenwerk flirrt vor dem Horizont, bricht und verspinnt den Blick, Kettfäden, die darauf warten, vom Betrachter mit eigenen Schussfäden durchzogen zu werden, um ein je individuelles Muster oder Bild zu entwerfen und das Segment zu einem Ganzen zu vervollkommnen.

Wenn man das, was man nicht länger sieht, was nicht mehr ist, in Erinnerung ruft, wird das nur scheinbar Vergangene erneut zur Gegenwart, denn was sich so selbstverständlich als gegeben präsentiert, ist immer die Summe dessen, was einmal war. (IV) Wie ein Samenkorn ruht also das Vergangene in allem, was wir sehen, kann Jahrtausende überdauern und wächst doch, mit ein wenig Erde und Wasser, mit ein wenig Fleiß und Mühe, erneut zu einer Gegenwart heran, die auf eine baldige Ernte und damit ins Künftige verweist. Wer sät, der wird sehen, der wartet, während auf dem Nährboden der Kunst heranwächst, was wieder vergänglich sein wird. „Samenkörner sind Brücken zwischen dem Vergangenen und der Zukunft“, sagt Ilka Raupach über ihre aus Draht und weißem Papiermachè modellierten, bis zu einem Meter großen Samenkörner. „In ihnen liegt das Ewige, das Überdauern langer Zeiträume, aber auch das so Flüchtige wie Vergängliche.“

Der Kunst ist es nie allein ums Sehen getan, sie weiß auch, dass sie verfälschen muss, um Wahrheit aufzeigen zu können. Kunst will daher immer zugleich ein Blendwerk der Sinne sein, will den Blick brechen, behindern, will stören, um offenzulegen, was der glatte, ungebrochene Blick vielleicht übersehen würde. (V) Michael Kortländer begann seine künstlerische Laufbahn als Maler, bemühte sich aber schon bald darum, die zweidimensionale Bildfläche zu einem dreidimensionalen Bildraum aufzubrechen. Heute arbeitet er gern mit großformatigen Pappen und Kartonagen, hier zu einer Barrikade zusammengesetzt, die nicht nur Erinnerungen an vergangene Revoluzzertage heraufbeschwört, sondern den Blick entlang der alten Bahnstrecke bricht, stört, ebenso Sperre ist wie Schutzwall. Und wen Kunst auf die Barrikaden gehen lässt, der gewinnt den besseren Überblick.

Acht Künstler stellen ihre Werke aus im Rahmen der 2. Sommerakademie Faser, Stoff, Papier: „Zukunft der Vergangenheit – Industriekultur in Bewegung“ an der ehemaligen Bahnstrecke der Brandenburgischen Städtebahn in Großderschau, mehr Künstler und Werke also, als ich in meiner Rede erwähnen kann. Noch kein Wort habe ich zu dem beindruckenden Pappeberg von Ruedi Fluri gesagt, zu den mit Naturfaserstoffen gefüllten, von Kunstfaser ummantelten Rundlingen und Beinlingen von Sabine Neubauer, zu Marianne Gielen, die mit Acrylfarben vermengte Plastikstoffe auf ihre Bilder bannt. Doch Sehen will gelernt sein, einfach nur sehen, denn meist sehen wir bloß, was wir bereits kennen, was wir erwarten. Unvoreingenommenes Sehen aber wird erst möglich, wenn man nicht weiß, was einen erwartet, wenn nicht vorab erklärt wird, was man zu sehen bekommt. Jedes weitere Wort von mir schmälert folglich das Sie erwartende Abenteuer des Sehens und Entdeckens, nimmt Ihnen womöglich die Freude am selbst Sehen, am selbst Entdecken, also halte ich lieber den Mund, überlasse Sie Ihren Augen – und wünsche Ihnen vergnügliche Stunden hier in Großderschau und die sinnlichsten Erfahrungen mit Faser, Stoffe und Papier.

Rede von Bernhard Robben zur Vernissage der Ausstellung am 4.7.2021 | Foto: Petra Walter-Moll

2 Gedanken zu „Einfach nur sehen“

  1. Sehr geehrter Herr Robben,
    selten habe ich eine Eröffnungsrede von solcher Qualität erlebt. Gerne hätte ich noch den Gedanken zu den Arbeiten von Marianne Gielen, Ruedi Fluri und meiner Wenigkeit gelauscht – ein Wermutstropfen zum Schluss.

    Beste Grüße
    Sabine Neubauer

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    • Zumal er sich so wunderbar auszudrücken vermag – ich hätte sie auch gern gehört, seine Gedanken zum Kegelstumpf aus Altpapier, handgefertigt aus über 2 Tonnen Altpapier von Ruedi und Oskar Fluri, zur Farbexplosion auf Marianne Gielens Bildern und zu Sabine Neubauers durchdachten, sowohl verspielten als auch naturnahen Rund- und Beinlingen. Aber ein Sehgenuss waren die Arbeiten allemal !

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